Papis Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft

Die zeitlich letzte Geschichte aus meiner Kindheit in Stadtlauringen beginne ich heute am 6. Januar. Das Datum ist ein besonders denkwürdiger Tag in unserer Familiengeschichte, denn an Dreikönigen 1950, erhielten wir die Nachricht von der baldigen Rückkehr unseres Vaters aus der russischen Gefangenschaft.
Es wird gewiss nicht die letzte Begebenheit sein, denn es gibt ja noch etliche Stichworte, die ich gerne mit Leben füllen möchte, jedoch ist sie chronologisch gesehen die Letzte, weil wir ja knapp drei Monate später aus Stadtlauringen, Unterfranken ins Rheinland umgezogen sind.

Also ich fange erst nochmal ganz von vorne an:

Meine Eltern hatten 1935 in Neuss, 4 Jahre vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, geheiratet. 1936 wurde Brigitte in Rohr/Thüringen geboren, Papis Liebling übrigens und abgöttisch von ihm geliebt, 1937 kam Ingeborg in Neuss zur Welt. 1938 ist Papis Vater gestorben soweit ich weiß an einem Schlaganfall, ein Jahr darauf 1939 Mamis Mutter, als Folge eines Sturzes von der Kellertreppe ein Jahr zuvor. Zwischenzeitlich hatte unser Vater seine 2. Stelle als Berufsschullehrer angenommen und war von Rohr in Thüringen nach Mayen ins Rheinland umgezogen. Die Junge Familie war oft sehr auseinander gerissen, mal war die Ehefrau zur Krankenpflege ihrer Mutter in Neuss, wo das Paar damals geheiratet hatte, dann mal wieder in Mayen, wo sie gerade eine Wohnung neu bezogen hatten. Als der Gedanke an ein gemeinsames Familienleben nun endlich in greifbare Nähe zu rücken schien, brach der Krieg aus.

Papi wurde 1940 zum Kriegsdienst eingezogen, ich bin wahrscheinlich pünktlich noch kurz vor seiner Abkommandierung nach Frankreich gezeugt worden und kam im Januar 1941 zur Welt. Gelegentlich gab es aus der Bretagne kurzfristige Heimaturlaube; Und wieder ein Notfall? 1943 wurde Ursula geboren.

Mit der Verlegung großer Teile der Wehrmacht an die Ostfront, wurde auch unser Papi von Frankreich nach Rumänien versetzt. Der Oberleutnant war als Jägerleitoffizier im Bereich des Bodenpersonals der Flugüberwachung tätig. Alle Angebote in den Generalstab zu wechseln, hat er strickt abgelehnt.
Später sagte er einmal: „Ich bin glücklich und stolz darauf, dass ich ohne eine Waffe in der Hand durch den Krieg gekommen bin und niemals ein Gewehr auf einen Menschen anlegen musste“.

Papi war am 10. Juli 1944 letztmalig bei uns in Mayen während eines 14-tägigen Heimaturlaubs, hatten die gesamte Familie gemeinsam noch ein paar frohe Tage verbracht, offensichtlich für lange Zeit die Letzten. Ein Brief, übrigens für lange Zeit der letzte aus Rumänien trägt das Datum vom 28. Juli 1944. Kurz danach muss wohl Papis Gefangennahme durch die Russen gewesen sein; denn, wie aus der Geschichte Rumäniens hervorgeht, war die Kapitulation des Landes am 28. August 1944.
Ab diesem Zeitpunkt wussten wir 16 Monate lang nichts mehr von der Existenz unseres Vaters ob, er im Krieg gefallen, ob er verschleppt, ob er gefangen genommen oder oder gar auf dem Weg in die Gefangenschaft umgekommen war. Ein großes Bangen und eine heftige Betrübnis beherrschte ein unendlich lange Zeit in unser Familienleben verbunden mit vielen Sorgen und Tränen unserer Mami, was wir uns als Kinder einfach nicht so recht vorstellen konnten.

Unser Vater, ja, das war nach der Beschreibung unserer Mutter das Idealbild eines Mannes; Sein Foto hing in unserer bescheidenen Wohnstube im ersten Stock des Haues Beckenstraße 69, an der Wand über dem Sofa, Papi darauf abgebildet als stattlicher junger Offizier, von dem wir, das waren vor allem meine um ein Jahr jüngere Schwester Ursula und ich, sonst keine weitere Vorstellung haben konnten, geschweige denn irgendeine Erinnerung an ihn. Die kurzen, sporadischen Besuche bis zu meinem dritten Lebensjahr hatten kein bleibendes Bild der Erinnerung an ihn in mir aufkommen lassen. So beschreibt unsere Mutter dieses Idealbild eines charakterfesten Ehemannes, eines liebevollen Vaters mit all den positiven Charaktereigenschaften, die ein Mann nur haben kann. Er ist kinderlieb, schlau, geduldig, intelligent, handwerklich begabt, witzig, amüsant, unterhaltsam, attraktiv, und schön.
Wir sind im Herbst 1944 von Mayen nach Stadtlauringen gezogen, um in den Kriegswirren der Bombardierung im Rheinland zu entgehen. Tatsächlich wurde Mayen im Krieg bis zu 80% zerstört. In dem unterfränkischen Marktflecken Stadtlauringen bezogen wir das Obergeschoss des Hauses Beckenstraße 69, einem Geschäftshaus, das damals dem Onkel Urban Kaufmann gehörte, der Ehemann von Mamis verstorbener Patentante Dora geb. Sahlmüller aus Schallfeld. Der Onkel war Spengler und hatte einen Lebensmittelladen mit allerlei Bedarf, der so im dörflich, bäuerlichen Lebensraum gebraucht wurde. In der Spenglerei arbeitete Sepp ein Geselle aus Thundorf. Das Geschäft war nach dem Tod von Tante Dora etwas verwahrlost, heute würde man es eher als Tante Emmaladen bezeichnen; was früher einmal wohl geordnet und sauber gewesen sein musste sah bei unserer Ankunft rech verkommen und abgewirtschaftet aus.
Der Onkel hatte meine Mutter gebeten, doch zu ihm zu ziehen, damit wir sicher vor den Kriegswirren wären, insbesondere aber, damit sie ihm den Haushalt führen könnte. So lebten Mami und wir vier Kinder mehr schlecht als recht im Obergeschoss des Hauses in einer bescheidenen 3 Raumwohnung, einer Wohn-Essküche und zwei Schlafzimmern, wo es bis auf den Kochherd keine Heizung, kein fließendes Wasser, und keine Toilette gab. Der Brunnen war auf dem Hof, das Klo, ein Häuschen draußen neben dem Misthaufen. Die Winter waren eisig kalt mit dicken Eisblumen an den Fenstern und Wänden. Wir als Kinder haben das damals nicht so schrecklich empfunden. Aber die herrlichen Sommer mit all den vielen kleinen Freuden in der dörflichen Gemeinschaft und des Lebens in der freien Natur hatten bei uns Kindern nie Gedanken der Entbehrung aufkommen lassen. 1945 nach dem Ende des Krieges kam Opapa, Mamis Vater, nach seiner Pensionierung dazu.
Die erste Lebenszeichen von Papi datiert vom 3. Oktober; die Feldpostkarte kam jedoch auf vielen Umwegen erst einig Zeit später an, da unsere Anschrift ja nicht bekannt war. Papi hat offensichtlich noch viel länger auf ein Lebenszeichen von uns warten müssen, denn erst Ende Mai 1946, also fast zwei Jahre nach seiner Gefangennahme erfährt er erst, dass wir noch leben, eine harte Nerven zermürbende Zeit in unserer ganzen Familie.
Brigitte und Inge gingen bereits in die Volksschule; Brigitte kam 1945 zu Kommunion wie oben schon beschrieben, wir beiden jüngeren Kinder kamen um ein Jahr versetzt in den Kindergarten, ich wurde 1947, Ursula 1948 eingeschult. Der Krieg war endlich vorbei, es gab überall ein gewisses Aufatmen nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes, für uns Kinder war das eher eine heitere Zeit mit allen Möglichkeiten des freien Lebens auf dem Land, während Mami zumindest bis zur Währungsreform die größten Sorgen hatte uns zu ernähren. Das bisschen Geld war nichts mehr wert, man ging betteln, tauschen, schachern. Ich selbst war gegenüber bei den Heusingers wie Kind im Haus und wurde dort von ihnen regelrecht mit durchgefüttert. Dafür durfte ich aber auch bei allerlei Arbeiten auf dem Hof und auf dem Feld mithelfen. Die Heusingers, das war der alte Vater und sechs erwachsene Kinder: Alfred, Elvira, Olga,Dora, später kamen Robert? und Willi aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Oben im Haus wohnten Denikels eine Frau, die mit ihren beiden Töchtern aus den Sudeten während der Kriegswirren geflüchtet war.
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Dann kam dieser ereignisreiche Tag: Es war Dreikönigen, also der 6. Januar 1950. Mami, Opapa und Inge waren zur Messe in der Kirche. Warum ich als angehendes Kommunionkind nicht mit zum Gottesdienst gegangen bin kann ich mir nur so erklären, dass Mami meine jüngere Schwester nicht alleine lassen wollte, ich sollte also auf sie aufpassen.
Wir sollten uns währenddessen waschen und anziehen, soweit kam es aber zunächst gar nicht, als es plötzlich an die unserer Stubentür klopfte. Erschrocken versteckten wir uns rasch unter dem Tisch, als ein Mann, der Postbote eintrat, und ein Papier in der Hand hielt. Da kommt euer Vater ja endlich zurück, sagte er legte das Telegramm auf den Tisch und verschwand dann auch eben so schnell wieder wie er gekommen war. Zaghaft krochen wir beide unter den Tisch hervor, ich öffneten den gefalteten Zettel und las die wenigen Worte: „Ankomme Montag den 9. Januar 1950 in Schweinfurt Dölfi“. Noch ehe ich so recht verstehen konnte was das bedeutet, zog ich mich in Windeseile an und lief eilends zur Kirche hinauf, um die frohe Nachricht meiner Mutter zu bringen. Da angelangt, mit dem Telegramm in der Hand, muss ich wohl laut, dass es jeder hören konnte, in die versammelte Kirchengemeinde gerufen haben: Unser Papi kommt zurück. Ich erinnere mich recht gut, dass es einen ziemlichen Tumult gegeben hat, weil ich so respektlos den Gottesdienst der fromm Versammelten gestört habe. Sogar der sonst so strenge Pfarrer Schinke zeigte Mitgefühl und ich konnte in seinen Gesichtszügen einen gewissen Ausdruck der Freude erkennen; er hat mich damals nicht einmal ermahnt.

Und dann kam endlich der Tag, an dem Papi abgeholt werden sollte, wenn ich mich recht erinnere, war es genau an seinem 43. Geburtstag am 9. Januar. Nach fast 11 Jahren Krieg und Gefangenschaft endlich wieder Daheim und zusammen, das konnten zumal wir Jüngeren sich überhaupt nicht vorstellen.
Aber wie sollte die Abholung nun vonstatten gehen? Öffentliche Verkehrsmittel fuhren damals, soweit ich weiß, nur zweimal am Tag, morgens nach Schweinfurt hin und am Abend wieder zurück; die meisten Leute fuhren ja zur Arbeit zu Kugel-Fischer. Wir suchten also nach einem anderen Verkehrsmittel, und das war ein Taxi, ein Mercedes 180 glaube ich, ein schon recht betagtes Vorkriegsmodel. Gegen Abend war die Ankunft angekündigt, wir machten uns am Nachmittag, noch bei Tageslicht, auf den Weg. Bloß wie wir da alle hineinpassten war schon verwunderlich, Mami, Opapa, wir vier Kinder und der Chaufeur, wir waren also bereits sieben Personen, wo sollte auf dem Rückweg dann auch noch Papi als achte Person hin passen?
Inge weiß zu berichten, dass wir Tags zuvor schon mal einen Versuch unternommen hatten, der war jedoch vergeblich,aber es gab eine aufregende Heimfahrt, denn wir wurden unterwegs durch einen dunklen Wald plötzlich mit einer Rotte Wildschweinen konfrontiert. Der Fahrer hatte alle Mühe mit einem gewagten Manöver der Meute auszuweichen. Nicht aus zu mahlen was hätte passieren können.
Jedenfalls waren wir Tags darauf wieder unterwegs, unklar, auf welchem Bahnhof nun die Ankunft sein könnte wurde Opapa an einem anderen Bahnhof abgeladen, während die ganze restliche Familie sich zum Hauptbahnhof begab.
Das dauerte lange, sehr lange, besonders für uns Kinder, wir wurden wegen der Zugverspätung sehr ungeduldig, ob wir wieder vergebens gekommen waren? Da kam endlich wieder mal ein Zug an, es war stockdunkel vielleicht schön gegen Mitternacht. Menschen stiegen aus, bepackt mit Taschen und Koffern Sie gingen an uns vorbei, die Große Menge wurde immer weniger nur noch vereinzelt stiegen ein paar Leute aus, und da einer von ihnen fast schon der letzte, ganz weit hinten fast am ende des Zuges ja der könnte es vielleicht sein, Aber so ein kleines Männchen, eingehüllt in einen dicken mit Watte gefütterten Mantel gebückt und mit zwei alten Koffer in den Händen.
Er ist es, rief Inge erfreut, nein er ist es nicht, sagte Brigitte dagegen, ich kenne ihn doch ganz genau. Doch, doch das ist Papi, sagt Inge wieder dagegen. Inge hatte schließlich recht. Die Begrüßung war überwältigend mit vielen herzlichen Umarmungen und unter vielen Tränen. Und du bist mein Puppalein nahm Papi Inge in die Arme, in der Meinung es sei Brigitte. Das allerdings war ein großes Versehen, denn Brigitte nun ihrerseits lief weg, weinte bitterlich und sagte wütend: „Das ist mein Papi nicht.“ Die Eltern versuchten zu beschwichtigen, was schließlich auch einigermaßen gelang.
Zusammen gingen wir dann zum Auto und fuhren zu dem anderen Bahnhof um Opapa abzuholen.
Die Rückfahrt wurde wirklich zu einer sehr beengten Angelegenheit. Der Chaufeur und Papi vorne,
der Hintersitz war jeweils doppelt besetzt; wir drei Ursula, Inge und ich saßen jeweils auf dem Schoß von Opapa, Mami und Brigitte

Weit nach Mitternacht kamen wir dann endlich zu Hause an und es gab einiges zu erzählen. Wir Kinder waren ganz aus dem Häuschen vor lauter Aufregung und betrachteten ganz verlegen unseren Papi. Als wir dann schließlich ins Bett mußten hörten wir aus dem Zimmer nebenan noch lange, dass Mami und Papi sich leise unterhielten und sicherlich gab es sehr viel zu erzählen, was nicht so direkt für unsere Ohren bestimmt war.
Am nächsten Tag, so kann ich mich noch recht gut erinnern, wurden die Gepäckstücke geöffnet und es gab für jeden kleine Geschenke, Mitbringsel, die Papi sich sicher vom Mund abgespart hatte. Unter anderem die russischen Bonbons, mit dem ganz eigenartigen, ungewohnten Geschmack, nach Nugat und Honig, den ich heute noch wieder erkennen würde.
Uns Kindern hat unser Papi nicht viel aus dem Krieg und der nachfolgenden Gefangenschaft erzählt. Später vielleicht, als wir schon etwas älter waren, und die Sprache bei einem Glas Wein etwas leichter fiel, kamen manchmal ein paar Sätze: die Schwerstarbeit beim Holzföllen am Ladogasee nahe der finnischen Grenze, dort Hunger und Entbehrung, weil es nur wenig zu Essen gab; von seiner Abmagerungen, dass er nur noch etwa 50 kg wog. Manchmal auch von den nicht enden wollenden Verhören mit angsterfüllendem Ausgang, weil er eine Bestrafung befürchten musste.
Später dann in Leningrad, heute St. Petersburg, hat er als Architekt und Ingenieur Flugzeughallen konstruiert, was ihm eine besondere Anerkennung einbrachte, auch dass er mit einem Rechenschieber umgehen konnte, während in Russland das Rechnen mit der Rechenharfe noch durchaus üblich war. Wegen Papis beruflicher Fähigkeiten wurde ihm vorgeschlagen doch für immer in Russland zu bleiben und seine Familie aus Deutschland zu nach holen. Nicht auszudenken, was aus uns geworden wäre, aber das stand führ ihn ohnehin außer Frage, er hatte sehr große Sehnsucht nach seiner Heimat und besonders zu Frau und Kindern.

Fortsetzung folgt

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